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Die Macht des Kopfkinos: Warum Geschriebenes uns scharf macht

Die Welt der Mainstream-Literatur ist meist ein ruhiges Gewässer. Manchmal jedoch wird dieser stille See aufgewirbelt und man bekommt das Gefühl, dass die Nachrichten tagelang nichts anderes berichten. Nein, dabei geht es nicht um einen spektakulären Thriller, einen Volltreffer der Horrorwelt, praktisch immer handelt es sich um Erotisches bis Pornografisches.

Erregung bis zum Orgasmus. Das braucht für sehr viele Menschen keine bildgewaltig-eindeutigen Szenen, sondern oft nicht mehr als eine geschickte Komposition von Worten. Doch warum springt unser Gehirn so stark darauf an?

  1. 50 Shades – eine Eisbergspitze

Wer die ersten Zeilen durchgelesen hat, hat mit Sicherheit an den jüngsten Fall derartiger literarisch-erotischer Massenbegeisterung denken müssen – die „Shades of Grey“-Trilogie, die in den Jahren 2011 und -12 monatelang nicht die globalen Literaturcharts verließ.

Doch so erfolgreich die Werke auch waren, sie gehören eigentlich zur Kategorie „schon wieder einer“. Davor waren es die „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche, produzierte Melissa Panarello „Mit geschlossenen Augen“ einen veritablen Skandal, genoss Benoîte Groult „Salz auf unserer Haut“, widmete Vladimir Nabokov seiner „Lolita“ ein Werk, nachdem Pauline Réage „Die Geschichte der O“ verfasst hatte.Ha

Geht man diesen Pfad zurück, findet man sich irgendwann bei Marquis de Sade wieder, dessen Bücher noch heute streckenweise wirklich nichts für schwache Nerven sind – dazu muss man nicht nur „Die 120 Tage von Sodom“ lesen. Und das sind nur die bekanntesten Werke. Bald jeden Monat kommt Frisches auf den Markt. Und was in Blogs, privaten Foren und dergleichen geschrieben wird, ist unzählbar.

Tatsächlich könnte man fast von einer sexuellen Schattenindustrie sprechen – denn wenn wir an Pornographie denken, denken wir an Filme mit bestens bestückten Männern und chirurgisch optimierten Frauen. Dabei wissen Kenner längst, dass nichts schärfer macht als das Kopfkino.

  1. Aus der Gedankenwelt in die Gedankenwelt – ohne Umwege

Nehmen wir einen x-beliebigen Pornofilm und machen daraus ein Ablaufdiagramm des dahintersteckenden sexuellen Wirkmechanismus:

  1. Ein Drehbuchautor (so es einen gibt) denkt sich eine Szene aus.
  2. Es werden durch andere Darsteller dafür gecastet, eine Location gefunden
  3. Die Darsteller spielen die Szene nach Anweisungen des Regisseurs nach, haben dabei viel Freiraum jenseits von „jetzt reite ihn mal verkehrtherum“.
  4. Die Szene wird nach dem Wünschen von Regisseur und Cutter zurechtgeschnitten.
  5. Die Szene läuft auf dem Bildschirm eines Zuschauers.
  6. Sie gibt ein festes Bild dessen, was passiert.

Sechs Schritte bis ins Konsumentengehirn. Und zwischen jedem davon passiert etwas, das von der ursprünglichen Intention des Drehbuchautors abweicht. Schon die Auswahl der Darsteller ist ein massiver Eingriff, der vielleicht nur noch minimal mit den ursprünglichen Gedanken zu tun hat. Im Zuschauerhirn kommt also nicht nur eine Szene an, die nichts mehr der Fantasie überlässt, sondern auch eine, die nur noch in Bruchteilen dem entspricht, was im Gehirn des Drehbuchautors entstand.

Machen wir nun die Gegenprobe mit einem erotischen Roman, einer Sexgeschichte und dergleichen:

  1. Der Autor denkt sich eine Szene aus
  2. Es wird, sofern es sich um ein Buch handelt, ggf. etwas redigiert, aber kaum maßgeblich.
  3. Der Leser konsumiert die Szene, der Rest findet in seinem Kopf statt.

Es ist ein direkterer, ungefilterter Weg. Und es überlässt die exakte Ausgestaltung der Szene nur dem Kopf des Lesers. Selbst exakte schriftliche Rahmenbedingungen lassen weitaus mehr Freiraum als jede Filmszene:

„…die sattgrünen Büsche jenseits der verwitterten Poolmauer ließen keinen Blick zu.
So entschloss sie sich, ihren blauen Bikini abzulegen, um das Wasser
überall auf ihrer gebräunten Haut zu spüren. Fast war sie enttäuscht, dass
niemand den Glitzerstein ihres Butt-Plugs sehen würde
“.

Was das Gehirn des Lesers dieser Worte exakt daraus macht, ist bei jedem unterschiedlich. Es ist der gleiche Wirkmechanismus, weshalb die meisten eine Romanvorlage als wesentlich besser empfinden als den davon abgeleiteten Film.

Es ist außerdem der gleiche Wirkmechanismus, wegen dem viele in vollständiger Nacktheit weniger Erotik sehen als in geschickter Verhüllung.

Und das gilt vollkommen unabhängig von der eigenen Distanz zu demjenigen, der die Worte verfasst. Selbst wenn man sich in einem knisternden Sex-Chat befindet, dessen Gegenüber man kennt, bleibt dem Hirn dennoch genug Fantasie-Spielraum, wenn da jemand schreibt „…dann blase ich dich, bis du nur noch kommen kannst“.

Einfach ausgedrückt: Der wichtigste Grund, warum wir durch Geschriebenes so erregt werden, ist, dass es unserem Gehirn obliegt, was wir daraus machen. Wir können uns die Teilnehmenden selbst ausmalen, können sogar Menschen auftreten lassen, die wir kennen und heimlich scharf finden. Unser Gehirn weiß am besten, was uns erregt. Und der große Fantasiespielraum zwischen geschriebenen Worten ermöglicht es ihm, genau das zu tun.

  1. Ein einfacherer Weg in die Extreme

Nicht jeder Mensch steht auf „normalen“ Sex. Faktisch gibt es nicht einmal etwas wie normalen Sex, sondern bloß einen breiten Konsens-Spielraum, bei dem auch viel Kulturelles drinsteckt.

Aber: Es gibt gerade in den Randbereichen Dinge/Praktiken, die deshalb Probleme bereiten:

  • Weniger Menschen stehen ebenfalls auf sie. Die Chance, jemand Gleichgesinntes zu treffen, sind geringer.
  • Viele genieren sich ob ihrer Fantasien, würden, obwohl etwas sie erregt, es niemals zugeben oder Filme darüber schauen.
  • Aus dem gleichen Grund ist es schwieriger, klassisch-pornographische Medien mit diesen Praktiken zu finden – schließlich müssen sich solche Produktionen rentieren; von Darstellern, die mitmachen, abgesehen.

Zugegeben, die Porno-Industrie ist sehr gut darin, selbst Fans abstrus anmutender Praktiken Filmmaterial zu geben. Aber es gibt dennoch (wirtschaftlich rentable) Grenzen. Anders bei Geschriebenem.

Ein Beispiel: Auf einschlägigen Sexgeschichten-Netzportalen finden sich überraschend viele Stories, in denen es sehr rabiat zugeht. Stories, in denen (legale) Dinge beschrieben werden, die selbst in der Porno-Industrie bestenfalls Nischen-Nischen sind. Ob die Autoren und Leser solcher Geschichten es im echten Leben nachmachen wollten? Wohl kaum. Passend dazu fanden Forscher heraus, dass es eine erhebliche Zahl von Frauen gibt, die Vergewaltigungsphantasien hegen, dazu sogar masturbieren – es dürfte absolut sicher sein, dass keine davon die Geschichten in die Tat umsetzen möchte.

Was das bedeutet? Ganz einfach: Die allermeisten Menschen sind in ihrer Fantasie deutlich bereiter, sich von extremen Dingen erregen zu lassen als sie es in der Realwelt (oder auch nur im Film) erleben möchten. Und abermals bietet ihnen Geschriebenes die Möglichkeit, diese Phantasie kurzzeitig auszuleben – auch noch wesentlich niedrigschwelliger als etwa ein auf dem Computer oder Fernseher laufender Hardcore-Porno.

Zusammengefasst

Dass wir von Geschriebenem so erregt werden, liegt daran, dass selbst detaillierteste Beschreibungen unserem Gehirn immer noch sehr viel Spielraum lassen, den es mit dem füllen kann, was es selbst erregend findet. Dabei spielt es auch keine Rolle, wenn wir dabei über Dinge fantasieren, die wir im wahren Leben niemals erlauben würden, vielleicht sogar abstoßend fänden. Geschriebenes passt einfach viel besser in die weitverzweigt-abgründige Welt des sexuellen Teils unseres Gehirns als es irgendein anderes Medium könnte – und fühlt sich nicht selten sogar besser an als echter Sex.

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