Unter dem Begriff der offene Beziehung kursieren verschiedenste Modelle und Vorstellungen. Während die einen darunter lediglich die Möglichkeit verstehen, in einer festen Partnerschaft auch gelegentlich sexuelle Kontakte mit anderen eingehen zu können, bedeutet sie für andere ein Beziehungsmodell, in welchem nicht nur „Seitensprünge“ erlaubt sind, sondern beide Partner engere Beziehungen mit anderen Menschen führen können.
Einige verstehen darunter auch die so genannte Polyamourie. Diese unterscheidet sich von einer offenen Beziehung jedoch dahingehend, dass eine Paar- oder „Hauptbeziehung“ generell abgelehnt wird und mehrere gleichwertige Beziehungen nebeneinander existieren können.
All diesen Modellen ist jedoch gemeinsam, dass ihre Umsetzung Mut und Vertrauen erfordert, denn obwohl die Gesellschaft heute alternativen Beziehungskonzepten gegenüber deutlich wohlwollender ist, werden offene Beziehungen nach wie vor häufig tabuisiert.
[ad#ad-6]Inhaltsverzeichnis
Offene Beziehungen damals und heute
In den frühen 1970er Jahren wurde in den USA ein Buch veröffentlicht, welches sich über Monate hinweg auf internationalen Bestsellerlisten hielt. Es wurde über 35 Millionen Mal verkauft und insgesamt in 14 Sprachen übersetzt. Geschrieben hatte es ein Ehepaar – Nena und George O´Neill – und es trug den Titel „Open Marriage“. Was die beiden Autoren über die „offene Ehe“ zu sagen hatten, beförderte die sexuelle Revolution von einer reinen Jugendbewegung zu einem Thema, was seither auch in traditionellen Ehen – und allmählich in der breiten Gesellschaft – diskutiert wurde.
Zwar schrieb das Paar O´Neill nicht ausschließlich über sexuell offene Beziehung. Ein Großteil des Buches widmete sich eigentlich dem partnerschaftlichen Umgang miteinander; lediglich wenige Seiten befassten sich mit außerehelichen Beziehungen. Trotzdem waren es genau diese Seiten, die für das meiste Aufsehen sorgten und andere Kapitel des Buches, die sich mit Kommunikation, Wertschätzung und Gleichberechtigung in einer Partnerschaft auseinandersetzen, in den Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung drängten.
Seither sind über vierzig Jahre vergangen und viele Dinge haben sich gewandelt. Die Gesellschaft ist offener, flexibler und individueller geworden, längst gelten auch Beziehungsmodelle abseits der traditionellen Ehe als gesellschaftlich akzeptiert. Dass jedes Paar dabei seinen eigenen Beziehungsstil finden muss und seinen eigenen Weg gehen sollte, gehört schon quasi zum Allgemeinwissen. Trotzdem gibt es auch heute noch häufig erstaunliche Parallelen zu der gesellschaftlichen Diskussion über „Open Marriage“ in den 1970er Jahren:
Kaum kommt das Thema der so genannten offenen Beziehung auf den Tisch, treten andere Themen wie Kommunikation, Wertschätzung und Gleichberechtigung in den Hintergrund. Schnell wird zunächst darüber diskutiert, ob Treue und Vertrauen noch möglich sind, wenn Sex mit anderen nicht mehr tabu ist. Nicht selten werden offene Beziehungsmodelle von ihren Gegnern schlicht als Freibrief zum Fremdgehen gesehen oder lediglich als Notlösung, wenn es ohnehin schon kriselt. Häufig kommt auch die Frage auf, ob offene Beziehungen nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind, weil sie beide Partner auf eine viel zu harte Bewährungsprobe stellen.
Sind wir konservativer, als wir meinen?
Geht eine monogame Beziehung in die Brüche, können wir uns oft verschiedene Ursachen vorstellen – unterschiedliche Einstellungen, Lebensentwürfe und Zukunftsvorstellungen, Eifersucht und fehlendes Vertrauen – unterschiedlichste Gründe, die zu unüberbrückbaren Differenzen führen. Wenn eine offene Beziehung scheitert, denken wir schnell an eine einzige Ursache: die Offenheit der Beziehung selbst.
Obwohl Liebesbeziehungen heute viel flexibler und individueller geführt werden können als noch wenige Jahrzehnte zuvor, gehört das klassische Beziehungsmodell noch immer zur gelebten „Normalität“. So führt trotz der Zunahme alternativer Lebenskonzepte ein Großteil aller Westeuropäer dauerhafte Paarbeziehungen, die meisten sogar mit Trauschein. Lediglich die Dauer der Beziehungen ist anders als früher: Ehen gehen häufiger und früher in die Brüche, neue Partnerschaften werden einfacher und schneller eingegangen.
Trotzdem gilt auch heute noch die Vorstellung einer dauerhaften Bindung zweier Personen als Wunschmodell der meisten Menschen. Sind wir also konservativer, als wir auf den ersten Blick meinen? Hier lohnt es sich, unsere Vorstellungen von Normalität und von Beziehungen ehrlich zu hinterfragen, wenn wir über die Öffnung einer Beziehung nachdenken. Dies kann sehr gut auch mit dem Partner oder mit Freunden gemeinsam geschehen, um die eigene Selbsteinschätzung durch die Wahrnehmung anderer zu ergänzen.
Punkte, um mit sich selbst und anderen ins Gespräch zu kommen:
- Wie stelle ich mir eine Beziehung vor?
- Welche Werte sind mir wichtig?
- Was erwarte ich von einem Partner?
- Gelingt es mir, in einer Partnerschaft über meine Wünsche, Bedürfnisse und Ängste zu sprechen?
- Wie ist meine Einstellung zu Sexualität?
- Gelingt es mir, offen über Sexualität zu sprechen?
- Was löst die Vorstellung in mir aus, in einer Beziehung auch sexuelle Kontakte zu anderen zu haben?
- Was löst die Vorstellung in mir aus, dass mein Partner sexuelle Kontakte zu anderen haben könnte?
Argumente für eine offene Beziehung
Das Hauptargument, das viele Befürworter einer offenen Beziehung ins Feld führen, bezieht sich auf die so genannte Abbruchfreudigkeit heutiger Beziehungen. Eine Bezeichnung, die sich für die von uns aktuell bevorzugte Beziehungsform durchgesetzt hat, ist die der „seriellen Monogamie“. Das heißt, dass wir zwar an dem Ideal einer monogamen Partnerschaft auf Dauer festhalten, auf der Suche nach dem passenden Partner jedoch verschiedene Beziehungen durchlaufen.
Durch unsere Berufe, unsere Hobbies, Familien und Freundeskreise stehen wir vielen Ansprüchen gegenüber und versuchen diese miteinander in Einklang zu bringen. Dabei sind wir teilweise auch einem enormen Tempo ausgesetzt, in dem sich die Dinge um uns herum wandeln und verändern. Wenn wir eine Beziehung führen, können diese Veränderungen hohe Ansprüche an uns und unsere Partner stellen. Nicht immer gelingt es uns, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.
Häufig hört man auch das Argument, dass monogame Lebenskonzepte heuchlerisch seien, da vor allem in Langzeitbeziehungen die meisten Partner fremdgingen. Nicht selten zerbrechen Beziehungen auch aus diesem Grund, etwa wenn ein Seitensprung oder gar eine länger andauernde Affäre nicht verziehen werden kann. Warum also nicht von vorn herein etwas erlauben, was in den meisten Fällen ohnehin passieren kann? So oder so ähnlich äußern sich in der Regel die Verfechter offener Beziehungskonzepte. Eine einzige Person könne eben nicht alle Bedürfnisse und Wünsche erfüllen, die man habe.
Manchmal kann eine einzige Person nicht alle Bedürfnisse und Wünsche erfüllen
Das ist mit Sicherheit auch richtig – ein einziger Partner kann (und muss) nicht immer in der Lage sein, jederzeit auf unsere Wünsche zu reagieren und all unsere Ansprüche zu erfüllen. Dass man „allein zu zweit“ auf Dauer nicht glücklich werden kann, wissen wir und deshalb haben wir längst schon ein Modell der offenen Beziehung umgesetzt, von dem Nena und George O´Neill in ihrem Buch über die offene Ehe ebenfalls geschrieben haben:
Die Wahrung verschiedener Interessen und die Investition in Lebensbereiche, die auch außerhalb der Beziehung liegen. Seine eigenen Interessen wahren zu können und sich dabei vom Partner unterstützt zu fühlen, auch wenn dieser die Interessen nicht immer aktiv teilt, scheint ein wichtiger Faktor zu sein, um auf Dauer eine stabile Beziehung aufrecht erhalten zu können.
Sind wir beispielsweise leidenschaftliche Konzertgänger, unser Partner bekommt jedoch allein bei dem Gedanken an laute und überfüllte Sääle Kopfschmerzen, so gehen wir diesem Hobby mit Freunden nach. Treiben wir gerne Sport, während sich unser Partner viel lieber mit Technik beschäftigt, so kann jeder für sich auch außerhalb der Beziehung Menschen finden, mit denen sich diese Interessen teilen lassen.
Ob Wellnesshotel oder Kegeltour: in vielen Bereichen geht es nicht um ein entweder – oder. In solchen Fällen gelingt es uns meist ohne Schwierigkeiten, die Partnerschaft für die Interessen des anderen zu öffnen. Für die meisten Beziehungen ist es relativ unkompliziert, den Partner für eine gewisse Zeit anderen Personen zu überlassen. In diesem Sinne sind unsere Beziehungen auch im Idealfall ohnehin schon offen. Erst, wenn auch eine körperliche Beziehung zu dritten eingegangen wird, wird es für die meisten Menschen kompliziert.
Im Idealfall sind alle Beziehungen offen – doch wie offen, muss jeder individuell entscheiden
Aus einer solchen Sichtweise sind stabile Beziehungen immer auf eine gewisse Weise offen. Unterschiedliche Interessen miteinander in Einklang zu bringen und dabei eine vertrauensvolle und unterstützende Partnerschaft aufrecht zu erhalten, fordert gewöhnlich die Kommunikation unter Paaren heraus. Nicht immer läuft diese Kommunikation im gemeinsamen Einklang ab, denn manche Interessen stehen sich auch entgegen. Dies gilt in gleichem Maße für monogame wie auch für offene Beziehungen.
Jedoch stellen Menschen selten so starke Exklusivitätsanspruche an das Hobby des Partners, wie an sein sexuelles Verhalten. Deshalb fordert die Überlegung, eine offene Beziehung einzugehen, auch sehr viel von einer Partnerschaft ab. Es ist nicht ratsam, eine Öffnung der Beziehung zu erwägen, wenn es ohnehin schon kriselt.
Denn der Entschluss setzt viel Vertrauen sowohl in sich selbst, als auch in die Partnerschaft voraus. Dabei kann es keine Anleitung geben, wie eine offene Beziehung gelingt. Die Entscheidung dazu kann (und sollte) zu allererst nur individuell – und anschließend auch gemeinsam mit dem Partner getroffen werden. Einige grundlegende Gedanken und Regeln können jedoch helfen, den Weg als mögliche Alternative gemeinsam zu gehen:
Regeln, die es in einer offenen Beziehung zu beachten gilt:
- Stellen sie die Beziehung in den Vordergrund. Eine offene Beziehung funktioniert nur dann, wenn auch die Beziehung funktioniert. Bei schwelenden Konflikten können zusätzliche Unsicherheiten, wie sie durch eine offene Partnerschaft zweifelsohne aufkommen werden, bedrohlich werden.
- Treffen Sie die Entscheidung gemeinsam. Lassen Sie sich dabei Zeit und überstürzen sie den Entschluss nicht. Wenn nur ein Partner wirklich überzeugt ist, während der andere noch zweifelt, schwächt das ihr gegenseitiges Vertrauen.
- Stellen sie klare Regeln auf. Treffen sie genaue Abmachungen, wie sie ihre Offenheit leben möchten. Sind nur gelegentliche „Seitensprünge“ erlaubt oder darf der Kontakt zu einer Person häufiger vorkommen? Geht es nur um sexuelle Aktivitäten oder wünschen Sie sich möglicherweise mehr? Wo dürfen welche Aktivitäten stattfinden – ist die eigene Wohnung beispielsweise tabu?
- Gehen sie ehrlich miteinander um. Bei einer offenen Beziehung öffnen Sie sich eben nicht nur anderen Personen, sondern zusätzlich sowohl sich selbst, als auch ihrem Partner auf eine neue Weise. Dies bedeutet mitunter mehr „Arbeit“ an der Partnerschaft als zuvor. Diese funktioniert nur dann, wenn sie sich ihre Gedanken, Wünsche, Ängste und Unsicherheiten ehrlich mitteilen können. Und sich auch gegenseitig sicher darin aufgehoben fühlen.
- Bleiben Sie im Gespräch. Ist die Entscheidung einmal gefallen und sind die Regeln aufgestellt, so gilt es, diese immer wieder zu überprüfen und zu besprechen. Gefühle, Wünsche und auch Vorstellungen ändern sich in der Praxis. Eine (offene) Beziehung sollte stets als Prozess begriffen werden, der sich zu unterschiedlichen Phasne auch unterschiedlich ausgestalten kann.